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Wenn Erinnerung verblasst: Trauer nach Kübler-Ross in Bezug zur Demenzerkrankung

  • leyroutz
  • vor 5 Tagen
  • 3 Min. Lesezeit

Die Diagnose einer Demenzerkrankung markiert oft nicht nur den Beginn einer neuen Pflegeaufgabe, sondern auch den Start eines langen Abschieds. Angehörige verlieren den geliebten Menschen Stück für Stück – und finden sich plötzlich mitten in einem Trauerprozess wieder, obwohl der oder die Betroffene noch lebt. Der Klassiker unter den Trauermodellen, die fünf Phasen nach Elisabeth Kübler-Ross, bietet dabei einen hilfreichen Kompass – wenn man ihn flexibel versteht.


Die fünf Phasen der Trauer – kurz erklärt

Phase

Typische Gedanken & Gefühle

Häufige Reaktionen bei Demenz-Pflegenden

Leugnung

„Es ist sicher nur Vergesslichkeit…“

Informationsflut, Arztbesuche, Hoffnung auf Fehldiagnose

Wut

„Warum passiert ausgerechnet uns?“

Gereiztheit, Schuldzuweisungen, Frust bei Wiederholungsfragen

Verhandeln

„Wenn wir nur das richtige Nahrungsergänzungsmittel finden…“

Experimentieren mit Therapien, strikte Tagespläne

Depression

„Es ändert sich nichts mehr – ich schaffe das nicht.“

Rückzug, Schlafstörungen, Tränen bei Routineaufgaben

Akzeptanz

„Ich kann den Verlauf nicht stoppen, aber ich kann da sein.“

Rituale etablieren, Hilfe annehmen, Achtsamkeit im Alltag

Wichtig: Bei Demenz verlaufen diese Phasen selten linear. Viele Angehörige erleben sie als Kreisbewegung – mit erneuten Schleifen, sobald sich der Zustand des Erkrankten sprunghaft verschlechtert.


Besonderheiten der „vorausgreifenden“ Trauer
  1. Langzeit-Spannung: Der Abschied zieht sich über Jahre. Das macht die psychische Batterie anfällig für „Dauer-Stand-by-Modus“.

  2. Ambivalente Gefühle: Liebe und Wut koexistieren. Beides anzuerkennen, verhindert Burn-out.

  3. Identitätsverlust: Pflegende definieren sich oft komplett über die Betreuung – und verlieren Hobbys, Freundschaften, Berufswünsche aus dem Blick.

  4. Scham & Tabus: Negative Gefühle gegenüber einer lebenden Person erscheinen „verboten“. Austausch in Gruppen entlastet hier enorm.


Fallgeschichte: Mara (46) und ihr Vater Bernhard (79)

Leugnung: Als Bernhard zum dritten Mal die Herdplatte anlässt, sucht Mara nach technischen Lösungen – Temperatursensoren, Timer-Steckdosen. „So behalten wir alles unter Kontrolle“, denkt sie. Das Wort Demenz verwendet niemand.

Wut: Bernhard nachts unruhig, klingelt stündlich. Nach zwei schlaflosen Wochen schreit Mara ihn an:

„Ich hab auch ein Leben, Papa!“ Die Wut erschreckt sie mehr als den Vater. Mit zitternden Händen googelt sie „Aggression bei Angehörigen“.

Verhandeln: Mara legt einen Notizblock an jede Zimmertür, startet Omega-3-Kuren und Sudoku-Sessions. Drei Monate hält der Plan – bis Bernharddie Notizblöcke zerkaut (er glaubt, es seien Kaugummis).

Depression: Mara bricht im Supermarkt vor dem Regal mit Vaters Lieblingskaffee zusammen. Die Erkenntnis: Er wird mich bald nicht mehr erkennen. Ihr Hausarzt stellt zwei Wochen Arbeitsunfähigkeit aus.

Akzeptanz & Erneuerung: In einer Selbsthilfegruppe lernt Mara, die Besuche zu „Inseln der Gegenwart“ zu machen: Musik der 60er, Handmassage mit Lavendelöl, alte Fotoalben ohne Faktencheck.

„Ich bin für seine Gegenwart da, nicht für seine Vergangenheit“

Als Bernhardeines Abends bei „Que Sera, Sera“ unvermittelt ihre Hand küsst, fließen Maras Tränen – Trauer und Dankbarkeit zugleich. Sie spürt, dass beide Abschied nehmen, jeder in seinem Tempo.


Selbstfürsorge: Strategien für jede Phase
  • Leugnung: Fakten sammeln – seriöse Quellen, fachärztliche Zweitmeinung, Demenz-Infohotlines.

  • Wut: Ventil schaffen – Sport, lautes Singen im Auto, Wut-Tagebuch. Schuldgefühle benennen, bevor sie gären.

  • Verhandeln: Realistische Ziele setzen – kleine Routinen statt „Masterplan Heilung“.

  • Depression: Kontakte halten – wöchentlicher Abend ohne Pflegepflicht, Psychotherapie erwägen.

  • Akzeptanz: Rituale pflegen – Lieblingslieder, Duftanker, Foto-Rundgang. Hilfe annehmen: Kurzzeitpflege, ehrenamtliche Besuchsdienste.

Fazit

Trauer bei Demenz ist keine Gerade von A nach B, sondern ein Pendel, das zwischen Hoffnung, Zorn, Ohnmacht und Frieden schwingt. Wer die fünf Phasen nach Kübler-Ross als Orientierung nutzt, nicht als Checkliste, kann leichter erkennen: Alle Gefühle sind erlaubt. Abschiednehmen beginnt nicht erst am Lebensende – es begleitet den ganzen Weg.

Die gute Nachricht: Zwischen den Lücken der Erinnerung entstehen neue Formen von Nähe, oft leiser, aber tief. Wie Mara erfährt, kann ein Kuss auf die Hand mehr sagen als tausend perfekt erinnerte Geschichten.


„Trauer ist der Preis für die Liebe“ – doch sie ist auch ein Wegweiser zu den eigenen Ressourcen. Wer ihn nicht allein geht, findet unterwegs Halt, Verständnis und manchmal sogar unerwartete Momente der Freude.




 
 
 

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© 2021 Christine Leyroutz - Alle Fotos von Fotografie_Lebzelt

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