Zwischen Realität und Gefühl – warum Korrigieren selten hilft

„Aber das stimmt doch gar nicht!“, sagt die Tochter, leicht genervt. Ihre Mutter schaut sie fragend an, fast ein wenig gekränkt. Für sie war der Ausflug nach Wien heute Vormittag wirklich. Sie hat ihn erlebt – in ihrer inneren Welt, die sich manchmal von unserer unterscheidet.

Das ist einer der schwierigsten Momente im Alltag mit Demenz: Wenn Realität und Gefühl nicht mehr zusammenpassen. Wenn wir den Impuls haben, etwas richtigzustellen – aus Sorge, aus Logik, aus Gewohnheit. Und gleichzeitig spüren, dass der Versuch „die Wahrheit zu erklären“ eher Unruhe schafft als Klarheit.

Menschen mit Demenz leben nicht mehr in derselben Zeitlogik wie wir. Ihre Erinnerungen vermischen sich, Vergangenes wird gegenwärtig, Vertrautes fremd. Für sie ist das, was sie gerade empfinden, wahr. Und genau darin liegt der Schlüssel zu einer anderen Form von Begegnung: nicht über Fakten, sondern über Gefühle.

Wenn jemand sagt: „Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet auf mich“, dann steckt dahinter kein Irrtum – sondern ein Bedürfnis. Vielleicht das Bedürfnis nach Geborgenheit, nach Sicherheit, nach etwas Vertrautem. Wenn wir antworten: „Ihre Mutter ist doch längst verstorben“ brechen wir in diesem Moment nicht nur eine Illusion, sondern auch das Gefühl von Halt.

Stattdessen können wir fragen:„Wie war Ihre Mutter?“„Was mochte sie besonders?“ Oder einfach: „Wollen wir zusammen ein Stück gehen?“

So entsteht Verbindung, ohne dass jemand recht haben muss. Und manchmal, in dieser stillen Form des Mitfühlens, spürt man plötzlich: Es geht gar nicht darum, was stimmt – sondern wer sich verstanden fühlt.

Demenz lehrt uns, dass Wahrheit viele Gesichter hat. Und dass die wichtigste vielleicht jene ist, die Herz und Seele berührt.

Reflexionsimpuls

Was würde sich verändern, wenn du heute versuchst, nicht zu erklären, sondern zu verstehen? Wenn du den Moment so nimmst, wie er ist –und dem Menschen vor dir erlaubst, dass seine Wahrheit auch ihre Berechtigung hat.