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Ein Perspektivenwechsel zum Thema Demenz: Warum wir inmitten der Herausforderung Neues lernen können

  • leyroutz
  • vor 2 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Die Diagnose Demenz wird oft mit der Vorstellung eines allmählichen und schmerzlichen Verlusts des geliebten Menschen verbunden. Dabei bleibt der Wert der Beziehung, die mit dem Betroffenen geführt wird, oft unbeachtet. Angehörige erleben, wie die kognitiven Fähigkeiten ihrer Liebsten schrittweise verschwinden, was zu emotionalen Belastungen führt und eine tiefgreifende Veränderung in der Pflege und im Zusammenleben mit sich bringt.


Doch trotz der vielen Herausforderungen kann Demenz für die Pflegepersonen eine unerkannte Chance für persönliche Entwicklung und neues Lernen darstellen. Psychologische Studien zeigen, dass der Prozess der Demenzpflege Angehörige nicht nur dazu zwingt, neue Wege in der Kommunikation und im Umgang mit schwierigen Situationen zu finden, sondern dass dieser Prozess auch die Selbstwahrnehmung und die emotionale Resilienz stärken kann. Die Pflege eines Menschen mit Demenz fordert die Angehörigen dazu auf, ihre eigenen Bedürfnisse zu reflektieren, eigene Grenzen wahrzunehmen und Wege zu entwickeln, diese Bedürfnisse zu erfüllen.

Zudem zeigt die Forschung, dass pflegende Angehörige, die sich aktiv mit der Krankheit auseinandersetzen und die Auswirkungen auf das eigene Leben reflektieren, in der Regel eine stärkere persönliche Reife entwickeln. Sie lernen, die Bedeutung der Gegenwart zu schätzen und finden Wege, trotz der Belastungen kleine, positive Momente im Alltag zu schaffen. Diese Erkenntnisse können nicht nur das Wohlbefinden der pflegenden Angehörigen steigern, sondern auch zu einer wertvolleren und erfüllenderen Beziehung zu ihrem demenzkranken Verwandten führen.


Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Fähigkeit, kreative Problemlösungen zu entwickeln. In der Praxis bedeutet dies, dass pflegende Angehörige lernen, innovative Kommunikationsmethoden zu finden, auch wenn verbale Kommunikation zunehmend schwieriger wird. Nonverbale Signale, die Körperhaltung oder auch das Berühren und das Teilen von Musik oder vertrauten Bildern können tiefere, emotionale Verbindungen herstellen, die für beide Seiten bereichernd sind.


Fallgeschichte: Annas Weg mit ihrer Mutter Maria

Als Annas Mutter — die 74-jährige Maria — zum ersten Mal vergaß, wie man den Wasserkocher ausschaltet, lachte Anna noch über den kleinen „Seniorenmoment“. Doch als Maria drei Monate später den Weg zur vertrauten Bäckerei nicht mehr fand, machte sich Angst breit. Die Diagnose „Demenz, mittleres Stadium“ traf Anna wie ein Hammerschlag; sie hatte das Gefühl, ihre Mutter verliere sich Tag für Tag ein Stückchen mehr – und sie selbst gleich mit.


Abschied in Etappen

In den ersten Wochen fuhr Anna jeden Abend mit dem Auto am Haus der Mutter vorbei, nur um sicherzugehen, dass das Licht in Marias Zimmer brannte. Wenn ihre Mutter sie verwechselte — „Bist du die neue Pflegerin?“ — fühlte Anna einen dumpfen Schmerz, als würde jemand langsam aber entschlossen eine Seite aus ihrem gemeinsamen Lebensbuch herausreißen. Ihre Reaktion war typisch: Sie versuchte, „die alte Maria“ mit logischen Erklärungen zurückzuholen, korrigierte jede falsche Erinnerung, beharrte auf Fakten. Das Ergebnis war Frust auf beiden Seiten.


Der Wendepunkt

Eines Tages entschloss sich Anna bei eine Selbsthilfegruppe zu besuchen. Eine 82-jährige Dame erzählte dort, wie sie mit ihrem demenzkranken Mann jeden Tag „in die Vergangenheit reise“, indem sie alte Schlager singe — und wie sehr sich ihr Mann dabei entspanne. Auf der Heimfahrt ließ Anna die Worte nachhallen: „Manchmal musst du dort abholen, wo die Erinnerung noch wohnt.“

Am nächsten Morgen brachte sie ein Fotoalbum mit: Sommer 1988, Urlaub am Gardasee. Maria reagierte zunächst nicht. Doch als Anna die Melodie von „Quando, quando, quando“ summte — dem Lied von der Hotelterrasse damals — leuchteten Marias Augen auf. Sie klopfte im Takt auf die Sessellehne, nuschelte ein paar Textfetzen. Zum ersten Mal seit Wochen spürten beide ein gemeinsames Jetzt.


Neue Kommunikationswege

Anna begann, mit Farben, Düften und Berührungen zu experimentieren. Lavendelöl am Abend signalisierte „Zeit zum Ausruhen“. Eine rote Tischdecke bedeutete Frühstück — rot war immer Marias Lieblingsfarbe gewesen. Wenn Worte versagten, zeichnete Anna Herzchen auf Marias Handfläche; Maria beantwortete sie mit kleinen Kreisbewegungen — ihr Code für „Es geht mir gut“.

Gleichzeitig lernte Anna, ihre Grenzen wahrzunehmen: Einmal pro Woche nahm sie sich den Mittwochabend frei. Anfangs nagte das schlechte Gewissen, doch sie merkte bald, dass dieser Abend mit Freunden ihr Kraft schenkte — und Maria am Donnerstag eine entspanntere Tochter vorfand.


Persönliche Reife

Im Laufe der Monate entdeckte Anna eine Gelassenheit, die sie früher nicht kannte. Sie, die stets Listen schrieb und Zukunftspläne schmiedete, übte sich in Gegenwärtigkeit: die Sonne, die am Fenster ihrer Mutter tanzte, der Klang zweier Spatzen im Innenhof, ein überraschendes Lächeln, wenn Maria unvermittelt Annas Hand nahm.

Psychologische Fachliteratur hätte ihr erklären können, dass genau diese Achtsamkeit die Resilienz fördert; doch Anna fühlte es schlicht am eigenen Leib. Ihre Kollegen bemerkten, dass sie souveräner mit Konflikten umging. Und als ihre jüngere Schwester einmal weinend am Telefon gestand, sie fürchte den Tag, an dem die Demenz Maria „ganz raube“, antwortete Anna leise: „Vielleicht verlieren wir viel — aber wir gewinnen auch eine neue Art zu lieben.“


Ein  Sommerabend

Ende August saßen Anna und Maria im Garten der Sonioreneinrichtung, in der maria inzwischen zu Hause war. Die Dämmerung legte goldene Streifen übers Gras. Maria wirkte unruhig, nestelte am Kleid. Anna zog ihr Handy hervor, spielte das Summen des Gardasee‐Lieds ab und legte Marias Hand an ihr Herz. Da entspannte sich der Gesichtsausdruck der Mutter; sie schloss die Augen, wiegte sich sanft.

In diesem Moment spürte Anna keinen Mangel, keinen Verlust. Sie spürte nur den ruhigen Rhythmus zweier Herzschläge, die sich über Worte hinaus verstanden. Und sie begriff: Auch wenn die Erinnerung bröckelt, kann Nähe in neuen Formen weiterbestehen.

Als die ersten Sterne erschienen, flüsterte Anna: „Danke, Mama.“ Sie meinte damit nicht die Vergangenheit, sondern das, was ihre Mutter ihr gerade jetzt noch lehrte: loslassen, zuhören, im Augenblick leben — und dabei eine stärkere Version ihrer selbst zu werden.



 
 
 

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© 2021 Christine Leyroutz - Alle Fotos von Fotografie_Lebzelt

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