Mein Vater und der Ananasbaum
- leyroutz
- vor 2 Tagen
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Aktualisiert: vor 1 Tag
Wie ich für die richtige Diagnose kämpfen musste
Vor einem Jahr ist meinem Vater fast etwas sehr Wertvolles genommen worden – nicht seine Gesundheit, sondern seine Würde. Und das nur, weil man ihn nicht richtig verstand.
Alles begann mit einem harmlos wirkenden Kratzer – verursacht vom eigenen Hund. Doch dieser kleine Kratzer hatte Folgen: Mein Vater entwickelte eine Sepsis, eine Blutvergiftung, die jedoch zunächst nicht erkannt wurde. Stattdessen fielen seine Veränderungen auf: Er wurde laut, ruhelos, sprach durcheinander, war zeitlich und örtlich desorientiert.
Im Krankenhaus interpretierte man sein Verhalten schnell als psychische Auffälligkeit. Die Rede war von einer drohenden Psychose, man erwog, ihn auf die Psychiatrie zu verlegen. Ich war fassungslos.
Ich erkannte, was sie übersahen: ein Delir.
Ich bin nicht nur Tochter, sondern auch Psychologin. Ich weiß, wie ein Delir aussieht. Und ich wusste: Das war eines. Die Symptome meines Vaters – plötzlich, fluktuierend, mit körperlichem Hintergrund – passten genau. Doch es hat mich viel Energie gekostet, die behandelnden Fachpersonen davon zu überzeugen.
Man wollte ihn schnell „woanders“ unterbringen, weil er „nicht tragbar“ sei. Aber ich bestand darauf, genauer hinzusehen.
Der Ananasbaum – ein einfaches, aber wirksames Werkzeug
Einer der Tests, die helfen können, ein Delir von einer Psychose oder einer Demenz zu unterscheiden, ist der sogenannte Ananasbaum-Test.
Dabei wird der oder die Patient:in gebeten, das Wort „Ananasbaum“ zu hören, das langsam buchstabiert wird: A–N–A–N–A–S–B–A–U–M. Die Aufgabe: Jedes Mal bei einem „A“ die Hand heben oder ein Zeichen geben.
Warum ist das relevant? Weil bei Menschen mit einem Delir die Aufmerksamkeit beeinträchtigt ist, können sie diese einfache Aufgabe nicht bewältigen – im Gegensatz zu Personen mit schwerer Demenz. Mein Vater konnte es nicht - ein zusätzliches kleines Zeichen, das mir half, die Richtung zu zeigen.
Für Angehörige: Lasst euch nicht verunsichern
Ich schreibe diesen Text für euch, die ihr an der Seite eurer Eltern, Partner:innen oder Freund:innen steht – wenn plötzlich alles anders wird. Wenn sie sich „komisch“ verhalten. Wenn euch niemand zuhört. Wenn man euch abspeisen oder abschieben will.
Vertraut eurem Gefühl.
Fragt nach: Könnte es ein Delir sein?
Besteht auf Abklärung – auch somatisch!
Lasst euch nicht ins Bockshorn jagen, wenn euch gesagt wird, ihr übertreibt.
Denn ihr seid oft die Einzigen, die noch wissen, wie die betroffene Person normalerweise ist. Das macht euch zur wichtigsten Stimme im System.
Für Fachpersonen: Hört hin – und prüft
Ein Delir ist kein Randphänomen. Es ist häufig, gefährlich und oft vermeidbar. Vor allem bei älteren Menschen, nach Operationen, bei Infektionen oder Medikamentenwechseln.
Der Ananasbaum-Test ist ein Beispiel dafür, wie niedrigschwellig, aber wirksam Delirsymptome erfasst werden können. Die Aufmerksamkeit ist ein Schlüsselsymptom – und eine Einladung, genau hinzusehen.
Mein Vater kam zurück
Nach antibiotischer Behandlung und ruhiger Pflege besserte sich der Zustand meines Vaters. Er war nicht psychotisch. Er hatte ein Delir – und er hat es überstanden. Weil wir hingesehen haben.
Ich wünsche mir ein Gesundheitssystem, das Angehörige nicht als Störung, sondern als Mitwisser:innen anerkennt. Und das bereit ist, nicht nur zu handeln, sondern auch zu hören.
Dankenswerterweise wurde ich letztendlich gehört.
Nachwort: Und heute? Wir feiern das Leben.

Es ist nun ein Jahr vergangen.
Mein Vater sitzt wieder am Frühstückstisch, streicht Butter aufs Brot, macht Witze – und der Ananasbaum ist längst verblasst. Geblieben ist nur der Respekt vor der Zerbrechlichkeit des Lebens – und die Dankbarkeit, dass wir ihn nicht verloren haben.
Heute fehlen ihm vielleicht noch zwei Kilo, aber er ist wieder ganz er selbst. Und ich? Ich bin gerade in Tirol. Die Sonne scheint, das Herz ist ruhig – wir feiern das Leben. Nicht laut, nicht spektakulär. Sondern genau so, wie es am meisten zählt: mit Anwesenheit.
Dieses Erlebnis hat mich gelehrt:
Wir müssen nicht immer laut sein, aber wir dürfen beharrlich sein. Wir dürfen hinterfragen, uns einmischen, unbequem sein – wenn es um Menschen geht, die gerade nicht für sich selbst sprechen können.
Und wir dürfen auch loslassen, wenn es Zeit ist.
Denn wenn wir einmal alles gegeben haben, können wir getrost sagen: „Ich war da.“
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