Warum Demenzdiagnostik allein keine Seele erfassen kann
- leyroutz
 - vor 3 Tagen
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In der Demenzdiagnostik spielen Testverfahren oder Screeninginstrumente wie der MMSE, der Uhrentest oder der CERAD eine wichtige Rolle – sie geben uns Hinweise, Anhaltspunkte, Vergleichswerte. Doch wer sich ausschließlich auf Zahlen und Punktwerte verlässt, übersieht leicht das, worum es eigentlich geht: den Menschen.
Eine kognitive Diagnostik kann Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Sprache messen, aber sie kann nicht erfassen, wie jemand lebt, denkt, fühlt – und wie er sich selbst erlebt. Eine Demenzdiagnose ist daher nie eine reine Testentscheidung, sondern immer das Ergebnis einer sorgfältigen klinisch-psychologischen Beurteilung, die weit über die Testbögen hinausgeht.
Das wichtigste für mich ist dabei der Beziehungsaufbau. Nur wenn ich es schaffe Vertrauen zu schaffen, bekomme ich Antworten – und ehrliche Momente. Menschen spüren sehr genau, ob sie bewertet oder verstanden werden. Viele Betroffene kommen mit innerer Anspannung: „Was, wenn ich versage?“ , "was erwartet mich?". Diese Angst ist real. Sie zeigt sich im nervösen Lächeln, im zögerlichen Blick zur Ehefrau oder der Tochter, im Räuspern vor jeder Antwort.
Hier braucht es Feingefühl, Geduld und oft auch eine Prise Humor. Ein liebevoller Scherz der Situation angepasst, kann die Spannung lösen. Ein mitfühlender Satz („Ich weiß, das ist ungewohnt – aber wir machen das gemeinsam“) öffnet Türen, die kein Testblatt je öffnen könnte.
Manchmal entsteht gerade in diesen Momenten ein kurzer, echter Kontakt – ein Lächeln, ein Satz, der hängen bleibt. Und plötzlich zeigt sich, wer der Mensch hinter den Symptomen ist: stolz, verletzlich, witzig, eigen.
Ein hoher MMSE bedeutet nicht automatisch, dass „alles in Ordnung“ ist. Und ein niedriger Punktwert erzählt noch lange nichts über die Lebensfreude, den Humor oder die Widerstandskraft eines Menschen.
Darum braucht es bei der Diagnostik mehr als Testkompetenz: Es braucht Beziehung, Vertrauen, Einfühlungsvermögen – und die Fähigkeit, das Unfassbare zwischen den Zeilen zu erkennen. Die Interpretation ist eine große Verantwortung und auch nach vielen Jahren bin ich beim Schreiben der Befunde demütig.
Und ja, manchmal gehört auch der Mut dazu, unangenehme Themen anzusprechen: Inkontinenz, Ängste, Traurigkeit oder Aggressionen. All das sind keine Tabus, sondern Ausdruck menschlicher Verletzlichkeit. Gerade in diesen Gesprächen zeigt sich, ob jemand spürt: Ich darf so sein, wie ich bin.
Ich sehe es als Teil meiner Aufgabe, die Wahrheit nicht zu verschweigen, sondern sie behutsam, ehrlich und würdevollmitzuteilen. Nur was ausgesprochen wird, kann auch verstanden, begleitet und verändert werden.
Mein Leitsatz lautet: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“Und genau darin liegt – bei aller Schwere – auch etwas Positives: Wahrheit schafft Orientierung. Sie öffnet den Raum für Akzeptanz, für Entlastung, für neue Wege. Manchmal beginnt gerade in diesem ehrlichen Moment das, was wirklich trägt – eine menschliche Begegnung auf Augenhöhe.
Während ich diesen Artikel schreibe höre ich gerade das Lied „Das Radl der Zeit“. Eines meiner Lieblingslieder aus Kärnten. Wie passend! Ein Lied über Vergänglichkeit, Wandel und den leisen Trost, dass alles Teil eines größeren Ganzen ist.
Vielleicht erinnert uns gerade das daran, dass auch in der Arbeit mit Menschen mit Demenz immer etwas bleibt – ein Stück Beziehung, ein Blick, ein Lächeln.
Das Radl dreht sich weiter. Mir ist es erlaubt für einen Moment dabei sein. Danke für Ihr Vertrauen.








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