top of page

Alltag statt Punktestand: Der Kern guter Demenzdiagnostik

  • leyroutz
  • vor 2 Tagen
  • 3 Min. Lesezeit

Der wichtigste Satz in der Diagnostik: „Wie geht es Ihnen im Alltag?“


Es gibt einen Moment in jeder Demenzdiagnostik, der oft mehr aussagt als jede Zahl in einem Testprotokoll. Er kommt dann, wenn jemand tief durchatmet, sich kurz sammelt und auf die Frage antwortet: Wie geht es Ihnen im Alltag?


Diese Frage öffnet Türen, die kein Screeningtest aufbekommt. Sie führt weg vom reinen Punktestand und hin zu dem, was wirklich zählt: den kleinen Stolpersteinen des Tages, dem Gefühl, immer wieder den Faden zu verlieren, der Erschöpfung nach scheinbar einfachen Aufgaben oder dem Rückzug, weil die Welt zu viel geworden ist. Und manchmal auch zu der Erkenntnis, dass es gar nicht das Gedächtnis ist, das Probleme macht, sondern die Stimmung, der Schlaf, der Stress oder eine körperliche Veränderung.


Testinstrumente zeigen, was jemand in einem strukturierten Setting leisten kann. Der Alltag zeigt, wie belastbar das Ganze ist. Deshalb ist die diagnostische Frage nach dem Alltag oft entscheidend: Kann jemand den Überblick behalten? Wird die Post noch geöffnet? Gelingt es, Routinen einzuhalten? Oder braucht es immer häufiger Unterstützung, damit der Tag flüssig bleibt?

Für Angehörige ist dieser Fokus besonders wichtig. Viele erleben schon lange, dass „irgendetwas nicht mehr rund läuft“, auch wenn ein Kurztest (MMSE) noch unauffällig ist. Die Diskrepanz zwischen Testleistung und Alltag ist oft der früheste Hinweis darauf, wohin die Reise geht. Und sie ist gleichzeitig eine Chance: Wenn man diese Veränderungen ernst nimmt, kann man früh unterstützen, entlasten und Orientierung geben, bevor es zu Krisen kommt.


Ein weiterer, häufig unterschätzter Punkt: Genau diese alltagspraktischen Veränderungen müssen im Befund dokumentiert werden. Nicht als Randnotiz, sondern klar und nachvollziehbar. Denn das Pflegegeld in Österreich orientiert sich an der Frage, wie viel Unterstützung im Alltag tatsächlich gebraucht wird. Wenn diese Bereiche nicht gut beschrieben sind, wirkt das im Pflegegeldprozess häufig so, als wäre noch alles relativ stabil – selbst dann, wenn Angehörige längst an der Belastungsgrenze stehen. Die Beschreibung des Alltags ist damit nicht nur diagnostisch wertvoll, sondern auch ein ganz praktisches Instrument, um die notwendige Unterstützung zu sichern.


Gute Diagnostik bedeutet deshalb nicht nur messen, sondern verstehen. Sie verbindet Zahlen mit Beobachtungen, Testwerte mit Lebenswirklichkeit und medizinische Kriterien mit menschlicher Erfahrung. Und sie gibt Raum für das, was Betroffene und Angehörige ohnehin längst spüren: dass das alltägliche Funktionieren der wahre Gradmesser ist.


Der Satz „Wie geht es Ihnen im Alltag?“ ist damit keine Formalität, sondern ein Fenster zur Realität. Eine Einladung, ehrlich zu erzählen. Und ein erster Schritt zu jener Klarheit, die Menschen in herausfordernden Zeiten so dringend brauchen.


Welche Alltagstätigkeiten unbedingt in den Befund gehören – inklusive Anleiten

Damit die Einschätzung realistisch bleibt und im Pflegegeldverfahren nachvollziehbar ist, sollten bestimmte Alltagsbereiche klar und konkret beschrieben werden. Wichtig ist dabei auch das Ausmaß der Unterstützung: Nicht nur, ob jemand eine Tätigkeit ausführt, sondern wie viel Anleitung, Strukturierung oder Beaufsichtigung notwendig ist. Denn im österreichischen Pflegegeldrecht gilt Anleiten als Übernahme – also als echte pflegerische Leistung.


Folgende Bereiche sollten dokumentiert werden:

• Haushaltsführung: Kochen, Einkaufen, Putzen, Wäsche. Wird selbstständig begonnen oder braucht es Anleitung, Erinnerung oder Schritt-für-Schritt-Hinweise?• Finanzen und Post: Öffnen, Verstehen und Erledigen von Rechnungen und Briefen. Ist jemand ohne Anleitung dazu in der Lage?

• Tagesstruktur und Orientierung: Kann jemand noch selbst organisieren, was als Nächstes zu tun ist? Oder braucht es wiederholte Anleitung, um den Tag flüssig zu halten?

• Kommunikation: Auffassungsgabe, Verständlichkeit, Telefonieren, digitale Geräte.

• Sicherheit: Herd ausschalten, Türen schließen, Medikamente korrekt einnehmen. Muss jemand hier angeleitet oder kontrolliert werden?

• Mobilität und Selbstversorgung: Ankleiden, Körperpflege, Essen. Ist Hilfe nötig oder ist jemand nur durch Anleitung in der Lage, die Tätigkeit überhaupt zu beginnen?

• Belastbarkeit: Wie schnell tritt Überforderung ein? Muss jemand angeleitet werden, Pausen zu machen oder Tätigkeiten aufzuteilen?

• Soziale Teilhabe: Rückzug, Impulskontrolle, Teilnahme an Gesprächen.

• Strukturierung: Muss jemand wiederholt daran erinnert werden, Aufgaben zu starten, fortzusetzen oder zu beenden?


Gerade die Beschreibung der Anleitung ist zentral, weil Angehörige oft unterschätzen, wie viel Unterstützung sie eigentlich geben – und weil diese Leistungen im Pflegegeldverfahren sonst unsichtbar bleiben.

ree

 
 
 

PER E-MAIL ABONNIEREN

Danke für die Nachricht!

© 2021 Christine Leyroutz - Alle Fotos von Fotografie_Lebzelt

bottom of page