Tag 115: Wenn das Herz schweigt, aber der Mensch bleibt – Leben mit frontotemporaler Demenz
- leyroutz
- vor 2 Tagen
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Weil es heute in der online Selbsthilfegruppe aktuell war, und sich die Teilnehmer:innen diesen Beitrag gewüsncht haben.
Stellen Sie sich vor, der geliebte Mensch verändert sich. Nicht körperlich – sondern im Wesen. Ein Partner, der früher feinfühlig war, wird taktlos. Eine Mutter, die immer wusste, wie es Ihnen geht, verliert das Einfühlungsvermögen. Oder ein Bruder beginnt plötzlich impulsiv zu handeln, Grenzen zu missachten, wo früher Rücksicht war.Dann sprechen wir möglicherweise von frontotemporaler Demenz – einer Form von Demenz, die vor allem Persönlichkeit, Verhalten und Sprache betrifft. Und oft Menschen in einem jüngeren Lebensalter trifft.
Was ist frontotemporale Demenz?
Die Frontotemporale Demenz (FTD) ist eine neurodegenerative Erkrankung, bei der vor allem die Stirn- (Frontal-) und Schläfenlappen (Temporallappen) des Gehirns betroffen sind. Anders als bei der Alzheimer-Demenz steht hier nicht das Vergessen im Vordergrund, sondern die Veränderung des sozialen Verhaltens, der Impulskontrolle, der Sprache und der emotionalen Resonanz.
Es gibt verschiedene Verlaufsformen:
Die Verhaltensvariante (bvFTD), bei der sich das Verhalten stark verändert: enthemmtes oder gleichgültiges Auftreten, mangelndes Mitgefühl, stereotype Handlungen.
Die Sprachvarianten (primär progressive Aphasie), bei denen das Sprechen und Verstehen zunehmend gestört sind.
Wenn Worte fehlen und Nähe schwerfällt
Für betreuende Angehörige ist die FTD oft besonders herausfordernd. Warum?
Weil der geliebte Mensch „noch da“ ist – und doch nicht mehr der oder die Alte.Weil die Krankheit nicht immer gleich als Demenz erkannt wird – oft denkt man zunächst an Depression, Burnout oder eine Persönlichkeitsveränderung.Und weil viele Reaktionen der Betroffenen als Verletzung, Faulheit oder Böswilligkeit missverstanden werden – obwohl sie schlichtweg krankheitsbedingt sind.
Was brauchen Angehörige?
Verstehen statt Urteilen:Zu wissen, dass diese Veränderungen keine bewusste Entscheidung, sondern Ausdruck einer Erkrankung sind, kann entlasten. Fachliche Aufklärung – wie Sie sie hier lesen – hilft dabei, sich innerlich zu sortieren.
Emotionale Entlastung:Gefühle wie Wut, Trauer, Schuld oder Scham sind normal. Reden Sie darüber – mit Fachpersonen, mit anderen Angehörigen, in Selbsthilfegruppen oder in Einzelgesprächen. Sie müssen da nicht allein durch.
Strukturen und Grenzen:FTD bringt oft entgrenztes Verhalten mit sich – klare Routinen und liebevoll bestimmte Strukturen geben Sicherheit. Für beide Seiten.
Raum für sich selbst:Sie dürfen auch weiterhin lachen. Leben. Durchatmen. Ein gutes Betreuungssystem schließt Sie als Angehörige mit ein – nicht als bloße Begleitperson, sondern als Mensch mit eigenen Bedürfnissen.
Was brauchen die Betroffenen?
Schutz und Struktur: Der Mensch mit FTD braucht Orientierung – auch wenn er sie nicht einfordert.
Emotionale Resonanz auf andere Weise: Berührung, Musik, Rituale – vieles wirkt auch ohne Worte.
Würde: Trotz auffälligem Verhalten bleibt dieser Mensch ein Mensch mit Geschichte, Gefühlen und Wert.
Geduld: Impulsives oder taktloses Verhalten ist Ausdruck des Abbaus im Frontalhirn – nicht Bosheit. Was sie brauchen, ist eine Umgebung, die das versteht und mitträgt.
Besondere Sensibilität gegenüber Medikamenten
Menschen mit frontotemporaler Demenz reagieren häufig sehr empfindlich auf Medikamente – insbesondere auf Psychopharmaka wie Antipsychotika oder Beruhigungsmittel.
Schon niedrige Dosen können zu verstärkter Unruhe, Stürzen, starrer Mimik, Muskelsteifheit oder sogar paradoxen Reaktionen führen. Medikamente, die bei anderen Formen der Demenz hilfreich sind (z. B. Cholinesterasehemmer wie Donepezil), zeigen bei FTD keinen Nutzen und können im Gegenteil sogar symptomverschlechternd wirken.
Deshalb gilt:
Medikamentöse Behandlungen sollten sehr sorgfältig abgewogen und individuell angepasst werden – und immer von Fachärzt:innen mit Erfahrung im Bereich der atypischen Demenzformen begleitet sein.
Nicht-medikamentöse Strategien (z. B. Struktur, Reizreduktion, Validation, aktivierende Elemente) sind oft wirkungsvoller und besser verträglich.
Ein letzter Gedanke aus der psychologischen Perspektive
Eine Frontotemporale Demenz wirft viele Fragen auf. Fachlich. Menschlich. Familiär. Aber sie zeigt uns auch, wie tief Beziehung gehen kann – selbst wenn Worte fehlen oder Verhalten sich verändert.
Sie als betreuende Angehörige leisten jeden Tag Großes. Vielleicht still, im Hintergrund, oft überfordert – und doch mit einer Kraft, die ich als Psychologin zutiefst bewundere.
Vergessen Sie nicht: Sie müssen es nicht allein schaffen. Es ist keine Schwäche, sich Hilfe zu holen – sondern ein Zeichen von Verantwortungsgefühl.
Und wenn es Momente gibt, in denen Ihnen alles zu viel wird, dann halten Sie inne und erinnern sich:Der Mensch bleibt. Auch wenn sich Vieles verändert.
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