Tag 129: Die emotionale Achterbahn der Pflege: Warum auch die Momente des Zweifelns und der Frustration wichtig sind
- leyroutz
- vor 3 Tagen
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Pflege ist nie linear – sie ist eine emotionale Achterbahnfahrt, die von Momenten der Nähe und des Verständnisses bis hin zu Frustration und Erschöpfung reicht. Insbesondere bei der Pflege eines Menschen mit Demenz erleben Angehörige häufig einen ständigen Wechsel zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Diese Auf- und Abbewegungen sind nicht nur normal, sondern auch notwendig, um mit den physischen und emotionalen Belastungen dieser anspruchsvollen Aufgabe umzugehen.
Es gibt viele Phasen, in denen die Zweifel überwiegen: „Mache ich genug?“, „Komme ich mit dieser Verantwortung zurecht?“ oder „Wird sich der Zustand meines Angehörigen je verbessern?“ Diese Fragen können lähmend wirken und ein Gefühl der Unzulänglichkeit hervorrufen. Doch gerade diese Phasen sind von entscheidender Bedeutung für den persönlichen Lernprozess der pflegenden Person. In der psychologischen Theorie des „Coping“ (Bewältigungsmechanismen) nach Lazarus und Folkman wird diese Art der Auseinandersetzung als ein aktiver Prozess verstanden, bei dem die pflegende Person nicht nur ihre eigenen Ressourcen entdeckt, sondern auch ihre Fähigkeit zur Anpassung und Veränderung stärkt.
Zweifel und Frustration sind emotionale Reaktionen auf die übermäßige Belastung und die Unvorhersehbarkeit der Krankheit. Sie zeigen auf, wie schwierig es ist, die Kontrolle zu behalten, während der demenzkranke Angehörige immer weiter in seiner Erkrankung fortschreitet. Ein weiteres psychologisches Modell, das hier hilfreich sein kann, ist das der „positiven Psychologie“, das nahelegt, dass auch schwierige emotionale Erfahrungen positive Auswirkungen haben können. Sie fördern das Wachstum, wenn sie erkannt und bewusst verarbeitet werden.
Dieser Blogbeitrag möchte pflegende Angehörige ermutigen, diese schwierigen Emotionen nicht zu verdrängen, sondern sie anzunehmen und zu akzeptieren. Es geht darum, sich selbst Mitgefühl zu schenken, sich von Schuldgefühlen zu befreien und anzuerkennen, dass es nicht immer möglich ist, alles perfekt zu machen. Der Fokus sollte darauf liegen, sich selbst als Teil des Prozesses der Pflege zu sehen und sich auch bei Zweifeln und Frustration selbst zu unterstützen.
Marie und ihr Vater
Marie (54) steht an einem dieser typischen Montagmorgen mit einem leisen Seufzer am Bett ihres Vaters Georg. Er schaut sie fragend an – heute erinnert er sich nicht an ihren Namen. Gestern Abend konnte er noch von ihrer Kindheit erzählen. Dieses Auf- und Ab macht Marie müde, aber es ist mittlerweile ihr Alltag.
Als Georg sich weigert, zu frühstücken, spürt Marie das vertraute Stechen von Ungeduld. Der Gedanke „Ich schaffe das nicht mehr“ blitzt auf. Doch statt hektisch zu insistieren, atmet sie bewusst durch: drei Sekunden ein, drei Sekunden aus. Dieser winzige „Atemraum“ ist Teil einer Intervention, die ihre Psychologin ihr vor zwei Wochen gezeigt hat. Ziel: einen Moment Abstand zwischen Reiz und Reaktion schaffen.
Intervention – 3-Minuten-Atemraum (nach MBCT):
Anhalten: Wahrnehmen, was gerade geschieht: Ich bin gestresst, weil Papa nicht essen will
Atmen: Den Atem als Anker spüren,
Weiten: Aufmerksamkeit auf Körper und Gefühle ausdehnen; sich selbst still sagen: „Es ist schwer, und das ist okay.“
Nach der Übung stellt Marie einen Teller mit geschnittenem Obst auf den Tisch und setzt sich daneben, ohne zu drängen. Minuten später greift Georg von selbst zu einem Stück Apfel. Ein kleiner Erfolg, aber einer, der Marie spürbar erleichtert.
Am Nachmittag klingelt ihr Smartphone: Erinnerung an das „Selbst-Mitgefühl-Tagebuch“.
Marie schreibt drei Zeilen:
Schwieriger Moment: Morgendliche Frühstückssituation.
Gefühl: Überforderung, Traurigkeit.
Selbst-Mitgefühl: „Ich tue mein Bestes, ich bin nicht allein
Der Akt des Aufschreibens lässt die Anspannung weichen. Abends, als Georg friedlich vor dem Fernseher einschläft, setzt sich Marie ans Fenster. Sie denkt an den Fachbegriff „Benefit-Finding“ aus der Positiven Psychologie: Inmitten des Chaos hat sie gelernt, präsenter zu sein, kleine Fortschritte zu feiern und ihre eigenen Grenzen zu respektieren.
Sie lächelt – nicht, weil alles gut ist, sondern weil sie spürt: Ihre Zweifel sind Signale, keine Urteile. Und jeden Tag übt sie ein bisschen mehr nicht gegen sie anzukämpfen.

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