Tag 152: Demenz als Tabuthema
- leyroutz
- 4. Juli
- 2 Min. Lesezeit
Die Macht der Scham
"Mama wird nur etwas vergesslich", sagt Petra am Telefon zu ihrer Schwester. Dabei weiß sie genau, dass es mehr ist. Dass ihre Mutter sich in der eigenen Wohnung verläuft, dass sie vergessen hat, wie man den Herd bedient, dass sie ihre Enkelin nicht mehr erkennt. Aber das Wort "Demenz" kommt ihr nicht über die Lippen. Zu groß ist die Scham, zu bedrohlich die Vorstellung, dass andere davon erfahren könnten.
Die Familie zieht sich zurück. Einladungen werden abgesagt ("Mama ist heute nicht so gut drauf"), der Hausarzt wird nicht über die Symptome informiert ("Das ist halt das Alter"), und Freunde fragen irgendwann nicht mehr nach. Eine unsichtbare Mauer entsteht um die Familie - gebaut aus Scham, Angst und gesellschaftlichem Druck.
Demenz ist in unserer leistungsorientierten Gesellschaft immer noch ein Tabuthema, behaftet mit Stigma und Vorurteilen. Obwohl die Krankheit bereits 1,8 Millionen Menschen in Deutschland betrifft und die Zahl kontinuierlich steigt, wird sie oft verschwiegen, beschönigt oder verdrängt.
Die Wurzeln des Tabuthemas: Unsere Gesellschaft definiert sich über Leistung, Rationalität und Kontrolle. Demenz stellt all diese Werte in Frage. Ein Mensch, der seine Gedächtnisleistung verliert, entspricht nicht mehr dem gesellschaftlichen Ideal. Das führt zu Ausgrenzung und Diskriminierung.
Historische Perspektive: Noch in den 1980er Jahren galt Demenz als normale Alterserscheinung. "Altersschwachsinn" oder "Verkalkung" waren gängige Begriffe. Erst allmählich wurde verstanden, dass es sich um eine Krankheit handelt. Doch die alten Denkmuster wirken nach.
Verschiedene Ebenen der Tabuisierung:
1. Individuelle Ebene:
Verleugnung der Symptome
Scham über den Kontrollverlust
Angst vor Stigmatisierung
Sorge um das eigene Image
2. Familienebene:
Geheimnistuerei gegenüber Verwandten
Isolation von Freunden und Bekannten
Überforderung durch das Verschweigen
Konflikte über den Umgang mit der Diagnose
3. Gesellschaftliche Ebene:
Vorurteile und Unwissen
Diskriminierung am Arbeitsplatz
Ausgrenzung aus sozialen Gruppen
Mediale Darstellung als "Horror-Szenario"
Konkrete Beispiele für Tabuisierung:
Klaus (58) verliert seinen Job, nachdem der Arbeitgeber von seiner Demenz-Diagnose erfährt
Familie Weber erzählt den Nachbarn, Oma sei "nur müde", obwohl sie bereits mittelschwere Demenz hat
Maria traut sich nicht, Hilfe zu suchen, weil sie befürchtet, dass alle über ihre Familie sprechen
Die Folgen der Tabuisierung sind gravierend:
Für Betroffene:
Spätere Diagnose und Behandlung
Isolation und Depression
Verlust der Lebensqualität
Keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung
Für Angehörige:
Überforderung und Erschöpfung
Sozialer Rückzug
Finanzielle Belastung durch fehlende Unterstützung
Gesundheitliche Probleme
Für die Gesellschaft:
Fehlende Aufklärung und Prävention
Unzureichende Versorgungsstrukturen
Verschwendung von Ressourcen
Perpetuierung von Vorurteilen
Internationale Unterschiede: In skandinavischen Ländern ist der Umgang mit Demenz offener. In Dänemark gibt es beispielsweise "Demenz-Botschafter" - Menschen, die offen über ihre Erkrankung sprechen. In Japan wird Demenz traditionell als Familienschande gesehen, aber auch dort findet langsam ein Umdenken statt.
Positive Beispiele für "Demenz-Outings":
Menschen die in der Öffentlichkeit stehen sprechen offen über ihre Erkrankung (Didi Constantini, Bruce Willis)
Blogs und Bücher von Betroffenen
Selbsthilfegruppen, die Öffentlichkeitsarbeit machen
Demenz-Cafés als offene Begegnungsstätten
Schritte zur Entstigmatisierung:
Aufklärung über die Krankheit
Positive Darstellung in den Medien
Begegnungsmöglichkeiten schaffen
Betroffene als Experten in eigener Sache
Politische Initiativen zur Entstigmatisierung
Der Wandel hat begonnen: Langsam ändert sich die gesellschaftliche Wahrnehmung.

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