Tag 96: Wuerdevoller Umgang mit Inkontinenz
- leyroutz
- 1. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Als Gerontopsychologin und Demenzexpertin betrachte ich das Thema Inkontinenz bei Demenz aus einer ganzheitlichen Perspektive – als komplexes Phänomen mit physiologischen, psychologischen und sozialen Dimensionen. Die Art und Weise, wie wir mit Inkontinenz umgehen, spiegelt unsere grundsätzliche Haltung gegenüber der Würde des Menschen mit Demenz wider und kann erheblichen Einfluss auf sein Selbstwertgefühl und seine Lebensqualität haben.
Inkontinenz bei Demenz hat vielfältige Ursachen: Neben der neurodegenerativen Beeinträchtigung der Hirnareale, die für die Blasen- und Darmkontrolle zuständig sind, spielen auch Orientierungsprobleme (die Toilette nicht finden oder erkennen), Kommunikationsschwierigkeiten (Bedürfnisse nicht ausdrücken können), Mobilitätseinschränkungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten eine Rolle. Diese Multifaktorialität erfordert einen differenzierten diagnostischen und interventionellen Ansatz.
Aus psychologischer Sicht ist besonders die emotionale Dimension der Inkontinenz zu beachten: Für Menschen mit Demenz, insbesondere in frühen und mittleren Stadien, kann Inkontinenz mit tiefer Scham, Verlegenheit und einem erschütternden Gefühl des Würdeverlusts verbunden sein. Der personenzentrierte Ansatz nach Kitwood betont die Notwendigkeit, diese emotionale Dimension ernst zu nehmen und das "Personsein" des Menschen auch in der intimen Pflegesituation zu wahren.
Basierend auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und meiner klinischen Erfahrung möchte ich konkrete Strategien für einen würdevollen Umgang mit Inkontinenz vorstellen:
Kommunikationsethik in der Inkontinenzpflege: Die Sprache, die wir verwenden, formt maßgeblich das Erleben der Pflegesituation. Die linguistische Forschung zur Pflegerhetorik zeigt, dass infantilisierende oder objektifizierende Sprache ("Wir machen jetzt mal trocken" oder "Die Windel muss gewechselt werden") das Selbstwertgefühl untergräbt. Stattdessen empfehle ich:
Altersgerechte, respektvolle Ansprache, die die Autonomie betont: "Ich helfe Ihnen jetzt im Bad" oder "Darf ich Ihnen beim Anziehen frischer Kleidung helfen?"
Prozesstransparenz schaffen: Kurze, klare Erklärungen zu jedem Handlungsschritt geben, selbst wenn unsicher ist, wie viel verstanden wird.
Die emotionale Dimension ansprechen: "Ich weiß, das ist unangenehm für Sie. Ich versuche, behutsam und schnell zu sein."
Einbeziehung durch Entscheidungsmöglichkeiten: "Möchten Sie lieber die blaue oder die graue Hose anziehen?"
Schaffung einer würdevollen Umgebungsgestaltung: Die Umgebungspsychologie lehrt uns, dass die räumliche Gestaltung direkten Einfluss auf das Erleben und Verhalten hat:
Privatsphäre gewährleisten durch konsequentes Schließen von Türen, Verwendung von Sichtschutz und Abdecken von Körperteilen, die gerade nicht gepflegt werden.
Sinnesfreundliche Gestaltung des Badezimmers: angenehme Raumtemperatur, blendfreie Beleuchtung, vertraute Düfte und beruhigende Hintergrundmusik, wenn dies als angenehm empfunden wird.
Orientierungsfördernde Gestaltung: Die Toilette sollte leicht erkennbar sein (z.B. durch einen farblich kontrastierenden Toilettensitz), gut ausgeleuchtet und mit eindeutigen visuellen Hinweisen versehen.
Hilfsmittel diskret integrieren: Inkontinenzmaterial in neutralen Behältern aufbewahren, medizinische Aspekte des Raumes minimieren.
Präventive Kontinenzförderung: Ein proaktiver Ansatz kann die Häufigkeit von Inkontinenzepisoden reduzieren:
Miktionsprotokoll führen: Durch systematische Beobachtung individuelle Ausscheidungsmuster erkennen und darauf basierend ein personalisiertes Toilettenbegleitungsschema entwickeln.
Prompted Voiding: Regelmäßige, freundliche Erinnerungen an Toilettengänge, ohne zu drängen oder zu infantilisieren.
Flüssigkeitsmanagement: Ausreichende, aber über den Tag verteilte Flüssigkeitszufuhr, mit Reduzierung am späten Abend.
Funktionale Inkontinenz reduzieren: Gute Zugänglichkeit der Toilette, ausreichend Zeit für den Weg dorthin, leicht zu öffnende Kleidung.
Hautschutz und -pflege als Ausdruck der Wertschätzung: Die dermatologische Forschung zeigt, dass die Hautgesundheit im Alter besondere Aufmerksamkeit erfordert:
Hautfreundliche Reinigung mit pH-neutralen, rückfettenden Produkten, die speziell für empfindliche, reife Haut konzipiert sind.
Systematische Hautbeobachtung zur Früherkennung von Irritationen oder Druckstellen.
Präventive Hautschutzsysteme anwenden: Atmungsaktive Schutzcremes als Feuchtigkeitsbarriere, regelmäßige sanfte Massage zur Durchblutungsförderung.
Hochwertige, atmungsaktive Inkontinenzprodukte verwenden, die speziell für sensitive Haut entwickelt wurden.
Adaptive Kleidungskonzepte: Die funktionale Bekleidung sollte sowohl praktischen als auch ästhetischen und würdewahrenden Ansprüchen genügen:
Leicht zu öffnende und zu schließende Verschlüsse (Klettverschlüsse statt kleiner Knöpfe)
Elastische Bünde für einfaches An- und Ausziehen
Dunkle oder gemusterte Stoffe, die kleine Missgeschicke kaschieren können
Altersgerechte, ästhetisch ansprechende Designs, die nicht als "Pflegekleidung" erkennbar sind
Materialen, die hautfreundlich, leicht zu reinigen und schnell trocknend sind
Psychologische Bewältigungsstrategien für Pflegende: Die emotionale Herausforderung der Inkontinenzpflege für Angehörige sollte nicht unterschätzt werden:
Kognitive Umstrukturierung: Inkontinenz nicht als "absichtliches" oder "schlimmes" Verhalten interpretieren, sondern als Symptom der Erkrankung verstehen.
Emotionale Abgrenzungsstrategien entwickeln: Professionelle Distanz auch in der familiären Pflege kultivieren, ohne die empathische Verbindung zu verlieren.
Perspektivwechsel üben: "Wie würde ich in dieser Situation behandelt werden wollen?"
Selbstwirksamkeit stärken durch Wissenserwerb und praktisches Training zur Inkontinenzversorgung.
Würdevolle Kommunikation über Inkontinenz im sozialen Umfeld: Wie über Inkontinenz gesprochen wird, beeinflusst maßgeblich das soziale Stigma:
Aufklärung des erweiterten familiären und sozialen Umfelds über den Zusammenhang zwischen Demenz und Inkontinenz, um Verständnis zu fördern.
Respektvolle Sprache auch in der Kommunikation mit Dritten etablieren.
Bei Besuchen diskrete Vorkehrungen treffen, ohne den Menschen mit Demenz zu beschämen.
Die würdevolle Inkontinenzversorgung ist nicht nur eine praktische Pflegeaufgabe, sondern ein ethischer Imperativ, der direkt aus dem personenzentrierten Demenzverständnis erwächst. Sie erfordert fachliches Wissen, emotionale Intelligenz und eine konsequent respektvolle Grundhaltung.

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