Wenn Demenz alte Wunden aufreißt – Warum Demenz auch eine systemische Familienkrise ist
- leyroutz
- vor 11 Minuten
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„Seit Mama krank ist, reden wir Geschwister überhaupt nicht mehr miteinander.“„Es ist, als ob alles, was früher schiefgelaufen ist, jetzt wieder hochkommt.“
Diese Sätze höre ich häufig von Angehörigen. Denn Demenz ist nicht nur eine Erkrankung des Gehirns – sie wirkt wie ein Brennglas auf das gesamte Familiensystem. Plötzlich geht es nicht mehr nur um medizinische Fragen oder Pflegepläne, sondern um alte Rollen, um Macht, um Ungleichgewichte, Schuld, Loyalitäten und unausgesprochene Erwartungen.
1. Demenz als „systemischer Stressor“
In der systemischen Psychologie wird davon ausgegangen, dass jedes Familienmitglied in ein Beziehungsnetz eingebunden ist. Wird eine Person – in diesem Fall durch Demenz – massiv verändert, gerät das ganze Netz in Bewegung.
Wer übernimmt die Verantwortung?
Wer fühlt sich übergangen?
Wer war früher das „Lieblingskind“ – und spielt diese Dynamik heute wieder eine Rolle?
Wer ist „weggezogen“ und jetzt plötzlich „die Fremde“?
Demenz bringt nicht nur eine neue Realität – sie reaktiviert alte Themen.
2. Verdrängtes zeigt sich deutlicher
Plötzlich geht es um Erbschaften, um alte Kränkungen, um ungerechte Verteilungen von Aufgaben. Oft nicht einmal bewusst – sondern über unterschwellige Reibungen.Demenz schafft einen Zustand der Krise – und Krisen führen dazu, dass die emotionale Selbstkontrolle sinkt. Was jahrelang unter dem Teppich lag, beginnt sich zu regen.
Viele Angehörige sind davon überrascht. Sie kommen wegen der Krankheit der Mutter oder des Vaters – und stolpern in die emotionale Geschichte der ganzen Familie.
3. Rollen fallen zurück – oder werden hinterfragt
Besonders Geschwister fallen oft zurück in ihre alten Rollen:
Die Älteste übernimmt automatisch die Leitung.
Der „Nesthaken“ wird unterschätzt.
Das Kind, das schon früher rebellisch war, wird als unzuverlässig wahrgenommen – egal wie sehr es sich bemüht.
Aber auch neue Rollen entstehen:
Das Kind, das sonst nie Verantwortung trug, blüht auf und wird zum Ruhepol.
Die „starke Schwester“ bricht plötzlich zusammen.
Demenz macht sichtbar, was sonst verborgen war. Sie zwingt die Familie zur Neuverhandlung ihrer Muster.
4. Was hilft in dieser Dynamik?
Systemische Perspektive einnehmenNicht: „Was ist falsch mit meiner Schwester?“Sondern: „Was für eine Rolle hatte sie in unserem Familiensystem – und was bringt sie heute in die Situation mit?“
Offene, moderierte Gespräche ermöglichenFamiliengespräche mit externer Begleitung (Psycholog:innen, Moderator:innen, Supervision) helfen, emotionale Knoten zu entwirren.
Rollen bewusst machen – und neue erprobenMan darf heute etwas anderes sein als früher. Auch das stille Geschwisterkind darf heute laut sein. Auch die Verantwortliche darf Hilfe annehmen.
Anerkennen: Jeder leidet auf seine WeiseHinter Vorwürfen und Rückzügen stecken oft Ohnmacht, Trauer oder Angst. Wer das versteht, kann Konflikte neu sehen.
Abschließender Impuls
Demenz ist nicht nur eine persönliche Erkrankung. Sie ist eine systemische Erschütterung – eine Einladung, hinzuschauen, was bisher ungesagt, unversöhnt oder unausbalanciert war.
Wer den Mut hat, die familiären Verstrickungen mit offenem Herzen zu betrachten, kann aus der Krise auch eine Chance machen: Für Heilung. Für neue Nähe. Für echte, erwachsene Verbindung.
Denn manchmal heilt die Familie ein Stück weit mit – auch wenn der kranke Mensch immer mehr verliert.
💬 Wie hat sich Ihre Familie verändert, seit die Demenz Teil Ihres Lebens ist? Gab es alte Muster, die plötzlich wieder aufgetaucht sind? Was hat geholfen, wieder in Kontakt zu kommen?

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