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Wenn Ueben zur Buerde wird

  • leyroutz
  • vor 1 Tag
  • 2 Min. Lesezeit
Warum Angehörige Lebensqualität nicht an Trainingsminuten messen müssen

Es beginnt oft mit einem Satz, den viele Angehörige fast schon schuldbewusst aussprechen: „Wir üben nicht genug.“ Dahinter steckt Angst, Hoffnung, Verzweiflung – und der stille Wunsch, die Krankheit wenigstens ein bisschen aufzuhalten. Ich erlebe das in Beratungen regelmäßig: Da sitzt eine Tochter, die jeden Tag kognitive Übungen vorbereitet, Wortlisten, Memory, kleine Arbeitsblätter. Und daneben sitzt die Mutter, die tapfer lächelt, mitmacht – aber innerlich zunehmend erschöpft.


Demenz ist keine Prüfung, auf die man lernen kann. Der Verlauf ist nicht davon abhängig, wie viele Arbeitsblätter man erledigt, wie viele Minuten man geistig „trainiert“ oder wie diszipliniert der Alltag strukturiert ist. Was ich bei vielen Angehörigen sehe: Der Übungsdruck entsteht aus Liebe – und gleichzeitig nimmt er beiden Seiten Lebensqualität.


Eine wichtige Erkenntnis aus der Psychologie der Demenz ist: Menschen mit Demenz lernen weiterhin. Aber sie lernen anders. Nicht über Druck, nicht über Leistung, nicht über Korrekturen. Sondern über Gefühle, Beziehungen, Sicherheit. Über Rituale, Sinneserfahrungen und Momente der Verbundenheit.

Wenn Training zum Muss wird, steigt der Stresspegel. Und Stress ist ein schlechter Lehrmeister – er verschlechtert das Gedächtnis, die Orientierung und die emotionale Stabilität. Ein ruhiger Tag mit einem warmen Gefühl wirkt stabilisierender als jede Trainingsserie.


Es hilft, die Frage zu verändern. Nicht: „Wurde heute genug geübt?“ Sondern: „Wie hat der Mensch heute gelebt?“War da ein Lächeln? Ein kleiner Moment von Stolz? Ein Spaziergang in vertrauter Umgebung, der ein Gefühl von Sicherheit schenkte? Ein Lied aus der Jugendzeit, das die Augen aufleuchten ließ? Solche Erlebnisse sind keine Nebensächlichkeiten – sie sind die eigentliche Basis von Lebensqualität.

Viele Angehörige berichten, dass sie durch diesen Perspektivwechsel wieder in Beziehung kommen. Dass sie wieder Tochter oder Sohn sein dürfen und nicht nur Trainerin, Gedächtnisstütze, Strukturgeber. Und plötzlich wird Zeit wieder Zeit – nicht ein ständiges Abarbeiten von kognitiven Anforderungen.


Fünf kleine Impulse, die oft mehr bringen als jede Übung:

  1. Eine gemeinsame Tasse Tee, langsam, ohne Erwartung.

  2. Ein Spaziergang mit vertrauten Geräuschen – der Bach, der Garten, der Friedhofsweg.

  3. Eine Tätigkeit, die an früher erinnert: Kuchen rühren, Wäsche falten, Blumen sortieren.

  4. Musik von früher – sie erreicht Areale im Gehirn, die lange stabil bleiben.

  5. Ein Moment von Lachen oder Leichtigkeit. Manchmal genügt ein Blick, ein Insider aus alten Zeiten.

Lebensqualität misst sich nicht in Minuten von Training, sondern in Momenten von Verbundenheit. Demenz nimmt vieles – aber nicht die Möglichkeit, einen guten Tag zu haben. Und manchmal beginnt dieser gute Tag genau dann, wenn der Druck weichen darf.


Kürzlich sagte eine Angehörige zu mir – müde, verunsichert, aber ehrlich:„Ich glaube, ich habe vergessen, einfach nur bei meiner Mama zu sein.“Wir saßen einen Moment schweigend. Dann erzählte sie von früher – vom gemeinsamen Kochen, vom Garten, vom alten Radio in der Küche. Und plötzlich wurde klar: Nicht das Üben fehlte, sondern die Nähe. Zwei Tage später schrieb sie mir, dass sie den Druck weggelassen hat. Statt Trainingsblättern gab es einen Apfelstrudel-Nachmittag. „Sie war ruhig. Und ich auch“, stand in der Nachricht.

Solche Momente zeigen, worum es wirklich geht: Die Krankheit verändert vieles, aber nicht die Fähigkeit, sich zu spüren. Nicht die Fähigkeit, Nähe zu erleben. Nicht die Fähigkeit, Teil einer Beziehung zu sein.

Lebensqualität entsteht nicht im Tun – sondern im Dasein.

ree

 
 
 

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© 2021 Christine Leyroutz - Alle Fotos von Fotografie_Lebzelt

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